Unterwegs im Lande des Bären - Bürgerreise nach Rjasan im Mai 2008

Das Geheimnis des Russen bestehe darin, dass er einen Riss habe.
Oder ein Loch. Das schreibt der russische Schriftsteller Sergej
Jerofejew mit Blick auf das Rußlandbild im Westen, auf
dessen Glauben, das Dort mit dem Hier messen und bewerten
zu können.* Am Ende oft genug: Unverständnis und Versagen.
Wo Offenheit und Erleben der Schlüssel sind zum Verstehen des
Anderen.

Im Mai 2008 machen sich deshalb erneut 25 Münsteraner auf den
Weg ins sprichwörtliche Land des Bären (das russische Wort
“medwed” bedeutet im Deutschen “Bär”). Nach Rjasan, in
Münsters russische Partnerstadt, um genau zu sein. Am Ende
sind es zwölf Tage geworden, angefüllt mit Eindrücken der Art, die
nur durch langjähriges persönliches Kennen und Vertrauen
möglich sind. Sei es der erlebte Unterricht in einer Schule, seien
es die Eindrücke in einem Altenheim, in einer Schule für
Sehbehinderte und Blinde oder in einer Krebsstation. Oder
das begeisternde Konzert in einer ländlichen Musikschule, der
tiefe Einblick in die Arbeitsbedingungen in einer russischen
Fabrik, die unvergessliche Flussfahrt mit den behinderten Kindern
samt Eltern einer Rjasaner Elterninitiative. Und vieles andere mehr
denn hier ist leider nicht der Platz, an alles zu erinnern. Stets
sind die Gespräche offen für die Usancen des russischen Alltages,
stets führen sie zwangsläufig zum Vergleich, der längst nicht
immer zum Vorteil gereicht für die Lösungen hierzulande.
Daneben die ganz privaten Kontakte, die Freude über das
Wiedersehen, gemeinsames Feiern und Erinnern. Mit Wodka,
natürlich, russische Küche bietet noch viel mehr an Gaumenfreuden.
Und wer diese russische Gastfreundschaft kennengelernt hat, der
versteht auch diesen Riss, denn auch unsere Seelen haben sich
geweitet. Vielleicht nur ein winziges Stück und vielleicht nur für
kurze Zeit. Aber es genügt für die Ahnung des Anderen und für jene
leise Wehmut, die aus dem Empfinden einer verlorenen
Kinderwelt entspringt.  

Wie die Seelen, so auch die Landschaft: unendlich weit, sich
Kleinem verweigernd und deshalb so beeindruckend für uns
Bewohner eines zersiedelten Landes. Die Steppe zu erleben
und die unendlichen Wälder. Hier die tief eingeschnittenen
Balkas, dort blinkende Seen zwischen den Bäumen unter einem
hohen Himmel mit majestätisch ziehenden Wolken, Segelschiffen
gleich im Farbkonzert aus Weiß, Blau und Grün und zuweilen dem
Gold der Zwiebelkuppeln. Das Bild führt zurück zu Sergej Jerofejew
und dem Riss in der russischen Seele. Denn “auch die Ausländer
waren voller Bewunderung, in ihrer gesegneten Ahnungslosigkeit.
Und wie sollten sie das auch verstehen, wo bei ihnen alles dicht ist, wo
sie nicht den kleinsten Riss haben?” Nach viel zu schnell ver-
gangenen zwölf Tagen fahren 25 Münsteraner zurück nach Westfalen.
Sie verlassen das Land des Bären mit der festen Absicht,
wiederzukommen. Do swidanija Rjasan spätestens in zwei Jahren,
spätestens 2010!


Michael Heß

* Viktor Jerofejew; Im Labyrinth der verfluchten Fragen. Essays;
Frankfurt am Main 1993

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